Der Psalter ist von den Endredaktoren sehr kunstvoll aufgebaut. Den Aufbau des Psalters hat Erich Zenger entschlüsselt. Der Psalter besteht, wie man auch in unserer Bibel sieht, aus fünf Büchern, wie auch die Tora aus fünf Büchern besteht. Diesem Gesetz Gottes antwortet die Gemeinde mit dem Psalter. Gerahmt werden die fünf Bücher von einem Eingang, nämlich Ps 1-2 und einem Abschluss Ps 146-150. Das erste Buch erstreckt sich von Ps 3,1 bis 41,14, das zweite von Ps 42,1 bis 72,19, das dritte von Ps 73,1 bis 89,53, das vierte von Ps 90,1 bis 106,48, das fünfte von Ps 107,1 bis 145, 21. Der letzte Vers jedes der ersten vier Bücher ist ein Gotteslob, mit dem das jeweilige Buch beendet wird. Diese Verse gehören also nicht zu dem einzelnen Psalm, an dessen Ende sie stehen. Beim fünften Buch trifft das so nicht zu. Wahrscheinlich ist der ganze 145. Psalm als Abschluss des letzten, eben des fünften Buches gedacht.
Auch innerhalb jedes der Bücher besteht ein Geflecht von Beziehungen zwischen den einzelnen Psalmen des jeweiligen Buches. Zenger bietet ein schönes Beispiel aus dem ersten Buch, nämlich die Psalmen 3 bis 14. Die Psalmen 3 bis 7 sind Klagelieder des Einzelnen, während in Ps 9 bis 14 Klage und Lob wechseln. Dazwischen steht ein Hymnus, nämlich Ps 8. Zenger bezeichnet die Psalmen 9 bis 14 als Klage der Verfolgten. Das gilt nur für einige dieser Psalmen. Wie die Psalmen 1-7 und 9-14 an dem Psalm 8 hängen, zeigen die Verbindungsstellen – Zenger sagt „Scharniere“ – nämlich Ps 7,18 wird in 8,2, Ps 8,10 in Ps 9,2 aufgenommen.
Das Lob der Tora in Psalm 1 ist der Schlüssel zum ganzen Psalter, dann folgt mit Ps 2 ein messianischer Psalm oder Königspsalm. Derartige Psalmen stehen immer wieder an besonders hervorgehobenen Stellen des Psalters. Daneben verläuft durch den ganzen Psalter noch eine andere Linie, die von der Königsherrschaft Gottes singt und nicht vom Messias.
Jeder Psalm ist in seinem Verlauf die Wiedergabe eines Geschehens zwischen Gott und dem Beter. Das entgeht einem, wenn man einzelne Verse herausgreift und zu „Leitworten“ macht. Außerdem führt es zu tieferen Einsichten, wenn man die Bezüge zu anderen Psalmen beachtet, wie die eben angeführten Beispiele zeigen. Man kann auch ohne Kenntnis des Hebräischen aufschlussreiche Entdeckungen machen, wenn man solchen Zusammenhängen nachgeht.
Hatten frühere Ausleger den Psalter noch als das „Gesangbuch des Alten Bundes“ angesehen, so ist man heute fast allgemein von dieser Vorstellung abgekommen. Die Endredaktion des Psalters hat keinen Bezug zum Gottesdienst im Tempel oder in der Synagoge, sondern man sieht in dem so gestalteten Psalter ein häusliches Gebet- und Erbauungsbuch unbeschadet der Tatsache, daß im Synagogengottesdienst wie im christlichen Gottesdienst Psalmen gebraucht werden.
Zu beachten ist, daß die LXX eine etwas andere Zählung der Psalmen hat als der masoretische Text. Die Psalmen 9 und 10 sind von den LXX zusammengezogen und sind dort Nr. 9. Ebenso zusammengezogen sind die masoretische Psalmen 114 und 115 von den LX zum Ps 113. Andererseits sind masoretisch Ps 116,1-9 bei den LXX Ps 114 und masoretisch Ps 116,10-19 bei den LXX Ps 115. Ebenso bildet masoretisch Ps 147,1-11 bei den LXX Ps 146 und masoretisch Ps 147,12-20 LXX: Ps 147, so daß auch die LXX schließlich 150 Psalmen bieten. Das ist deshalb zu beachten, weil die katholische Zählung den LXX folgt, die evangelische dem Masoretentext. Die LXX bieten noch einen 151. Psalm, von dem aber ausdrücklich bemerkt wird, daß er „außerhalb der Zahl“, nämlich der Zahl der Psalmen ist, also nicht dazugehört.
Fragen wir aber hinter die Endredaktion zurück, so finden wir, daß die Endredaktors Psalmen ganz unterschiedlicher Herkunft und sehr verschiedenen Inhalts in das heute vorliegende kunstvolle System gebracht haben. Nach dem Inhalt unterscheidet man Klagelieder des Einzelnen, Klagelieder des Volkes, berichtendes Lob des Einzelnen, berichtendes Lob des Volkes, beschreibendes Lob und Weisheitspsalmen. Die beiden Typen der Klagelieder enthalten meist nicht nur die Klage, sondern am Ende auch die Gewißheit der Erhörung, die in Lob übergeht, so daß das berichtende Lob, welches den Vorgang der Rettungstat Gottes berichtet, aus dieser Gewißheit der Erhörung hervorgeht. Beschreibendes Lob ist etwas anderes. Es handelt nicht von bestimmten Taten Gottes, sondern beschreibt die Wunder seiner Schöpfung. Weisheitspsalmen oder Gesetzespsalmen sind lehrhafte Dichtungen. Als typische Dichtungsform findet man im Psalter dauernd den Parallelismus membrorum, den Parallelismus der Glieder. Zwei Zeilen sagen mit anderen Worten dasselbe ,z.B. Ps 34,2:
Ich will den Herrn loben allezeit;
Sein Lob soll immerdar in meinem Munde sein.
Die meisten Psalmen sind in nachexilischer Zeit gedichtet worden. Für vorexilisch halten Seybold und Zenger die Psalmen 2; 24; 29;45; 60;72; 93, allerdings nicht in ihrer jetzigen Gestalt, die das Ergebnis einer Bearbeitung ist. Königspsalmen können nur in vorexilischer Zeit entstanden sein, wie z.B. Psalm 2, der dann später messianisch verstanden wurde, wie er ja bei uns am Anfang des Gottesdienstes in der Christnacht steht. Im Gottesdienst des ersten wie des zweiten Tempels wurden Psalmen gesungen, wahrscheinlich von einem Levitenchor, in den die Gemeinde mit einem Refrain einfiel. Klagelieder des Volkes hatten ihren Platz in Bußgottesdiensten.