Das Buch Ruth steht in unseren Bibeln wie schon in den LXX zwischen dem Richterbuch und dem I.Buch Samuelis. Es ist da gewissermaßen geschichtlich eingeordnet, weil es von den Vorfahren des Königs David handelt und wegen seines Anfangs (1,1), der die nun folgenden Ereignisse in die Zeit der Richter, also vor das Auftreten Samuels legt. Formal hat man es der Gattung der idyllischen Novelle zugeordnet, und so liest es sich auch. Es ist die Geschichte einer Treue, und diese Treue wird von Gott belohnt. In diesem Sinne haben wir es mit einer weisheitlichen Novelle zu tun, wobei die Weisheit darin besteht, daß man das Gute erkennt und tut, das dann auch von Gott belohnt wird, also zum Erfolg führt. Es handelt sich aber nicht einfach um eine zwischenmenschlichen Treue, sondern diese nur vor dem Hintergrund der Treue Gottes, welche die Heimatlosen erfahren dürfen.
Ursprünglich hat die Erzählung nichts mit der Abstammung Davids zu tun. Dieser ursprünglich Bestand beginnt mit der zweiten Hälfte des ersten Halbverses von 1,1, also 1aß, und endete entweder mit 4,16 oder mit dem ersten Halbvers von 4,17 (4,17a). Darüber ist man sich weitgehend einig. Allerdings ist in letzter Zeit auch die Meinung vertreten worden, daß 4,18-22 zum ursprünglichen Bestand gehört haben. Diese letzten vier Verse des Buches hängen unübersehbar mit dem Stammbaum Davids I.Chr 2,3-15 zusammen, wobei die Frage ist, welches Stück von welchem Stück abhängt. Ist I.Chr 2,3-15 primär, dann kommen wir mit Rut 4,18-22 ins zweite Jahrhundert v. Chr. Im umgekehrten Falle wären die fünf Verse etwas früher anzusetzen. Wichtiger als diese Frage ist der Grund für die „Davidisierung“ der Rut-Novelle. Der liegt wahrscheinlich in der messianischen Erwartung: der Messias, also der Retterköng, der Israels einstige Größe wiederherstellt, wird ein Davidssohn aus Davids Stadt Bethlehem sein. In dieser Erweiterung geht es über das Schicksal der beiden heimatlosen Frauen und Gottes Treue zu ihnen hinaus zur Treue Gottes zu seinem Volk.
Die Novelle selbst enthält einige bemerkenswerte Gesichtspunkte. Zu nennen ist zunächst die Schwagerehe: verwitwet eine Frau kinderlos, dann soll sie nicht einen beliebigen Mann heiraten, sondern ihr Schwager soll sie heiraten, damit sie so vielleicht noch Kinder bekommt, die dann der Sippe ihres verstorbenen ersten Mannes angehören(V.Mose 25,5). Dann sind die Bestimmungen über die Nachlese der Ernte (Rut 2,16 vgl. III.Mose 19,9-10) aufgegriffen, ebenso das Rückkaufsrecht (III.Mose 25). Besonders auffallend sind die Eigennamen, die alle eine für den Ablauf der Handlung wichtige Bedeutung haben. Ihre Entschlüsselung ergibt geradezu einen Code für die Geschichte. Zenger sieht darin ein Kennzeichen für die nachexilische Herkunft. Die Novelle ist ganz aus der Frauenperspektive erzählt, und das ist vorexilisch kaum denkbar. Im Kontrast dazu steht die „Davidisierung“, in der nur Männer eine Rolle spielen. Zu bedenken ist auch, daß Rut eine Moabiterin, keine Israelitin ist. Da liegt die Polemik gegen die strengen Ehegesetze Esras und die Auseinandersetzung mit der Moabiterfeindschaft nahe.
Unübersehbar ist die Symmetrie im Aufbau des Buches: im 1. Kapitel steht Ruts Schwiegermutter Naemi im Mittelpunkt, im 2. Und im 3.Kapitel Rut, im 4. Wieder Naemi. Die Naemi-Kapitel werden beide mit einer Handlung eröffnet, die Rut-Kapitel mit einem Gespräch und ebenfalls mit einem Gespräch jeweils beendet, welches das Geschehen deutet. Die Mitte der Rut-Kapitel nimmt jedes mal eine Begegnung mit Boas ein. Das Buch enthält noch mehr an kunstvoller Komposition. Auf die Suche danach kann sich jeder selbst aufmachen.
Die Entstehung der Novelle dürfte in die nachexilische Zeit, etwa ins 5. Jahrhundert fallen.