Der Brief an die Epheser stellt uns wie beim Kolosser vor die gleiche Frage. haben wir also überhaupt eine Hinterlassenschaft einer wirklichen Paulusschule? Denn zweifellos hatte er Mitarbeiter, Schüler, die ihn überlebt haben. Auch hier ist die Adresse fraglich, aber aus einem andern Grunde als beim Kolosserbrief. Statt der Überschrift „An die Epheser“ steht in Markions Kanon „An die Laodizener“, und in 1,1 fehlt der Name „Ephesus“ überhaupt. Es steht auch kein anderer da. Vermutet wird, daß es sich um ein Rundschreiben handelt, in welches der Name der jeweiligen Empfängergemeinde eingesetzt wurde. Der Verfasser des Epheserbriefes hat den Kolosserbrief gekannt und benutzt, aber das Material des Kolosserbriefes diente ihm zu einem andern Zweck.
Der leider früh verstorbene Karl Martin Fischer hat vor dreißig Jahren zeigen können, daß es dem Verfasser darum ging, die kirchlichen Verhältnisse, wie sie zur Zeit der Apostel geherrscht haben, wiederherzustellen, jedenfalls den sog. apostolischen Missionsverband, wie man ihn für das Wirkungsfeld der Apostels Paulus voraussetzen kann. Für jene Zeit sind keine in sich geschlossenen Gemeinden mit örtlichen Amtsträgern anzunehmen. Maßgeblich war allein der Apostel, der die Gemeinden besuchte, Besuche von ihnen empfing, Briefe an sie schrieb, um sie zu beraten, belehren, zu mahnen und zu trösten. Innerhalb der Gemeinden gab es eine ganze Anzahl von Funktionen, die konnten aber wechseln und waren keine festen Ämter. Diese aber hatten sich nach dem Tode des Apostels gebildet, Episkopen, Älteste, Diakone, Diakonissen, und die Ortsgemeinde war so die Größe an der man sich orientierte. Der Epheserbrief nennt dagegen nur übergemeindliche Ämter, gewissermaßen im Reisedienst in der Nachfolge des Apostels. Diese, nur diese, sind himmlischen Ursprungs und von Christus selbst eingesetzt (Kap.4,7-14).
Das ist aber nicht alles, was dem Briefschreiber als Ideal apostolischer Zustände vor Augen steht. Es kommt nämlich noch das Verhältnis von Heidenchristen und Judenchristen hinzu, also die Kirchengemeinschaft zwischen beiden, wie sie Paulus angestrebt hat. Juden und Nichtjuden standen sich vor Christus in dem denkbar größten Gegensatz gegenüber. Nun aber sind sie durch das Kreuz Christi versöhnt (Kap.2,11-22).
Gerade das letztere hat Eberhard Faust vor zehn Jahren zeitgeschichtlich begründet, und an Hand der damaligen Philosophie des mittleren Platonismus vertieft. Der steht nämlich hinter der Argumentation des Briefes, weshalb auch bei ihm, wie beim Kolosserbrief die Eschatologie zurücktritt, und das, was davon übrigbleibt, ganz unpaulinisch erscheint. Zeitgeschichtlich ist zu bedenken, daß sich nach dem jüdischen Krieg, der 74 zu Ende war, im Reich eine starke antijüdische Stimmung ausbreitete, die sich auch in den Christengemeinden auszubreiten drohte oder gar schon ausbreitete. Dem tritt der Epheserbrief entgegen.