Der Galaterbrief zeigt, daß die judenchristliche Agitation unter den von Paulus gegründeten heidenchristlichen Gemeinden in der Landschaft Galatien Erfolg hatte (Kap.3,1-5).
Hier ist zu klären, was unter der Landschaft Galatien zu verstehen ist. Es ist das Gebiet um die Stadt Ancyra, heute Ankara, von gut 56000qkm, also von der Größe Kroatiens. Bis hierher waren die seit dem 3. vorchristlichen Jahrhundert unter heftigen Kämpfen aus Gallien nach Kleinasien vordringenden Kelten gelangt und hatten hier ein Staatswesen gegründet, das sie gegen die benachbarten militärisch behaupten mußten. Schließlich wurden sie von den Römern in deren Imperium einverleibt, später mit den südlich gelegenen Gebieten Lykaonien, Pamphylien usw. zu einer Provinz verbunden.
Hat Paulus seinen Brief an die Christen in der Landschaft Galatien um Ancyra herum gerichtet oder an die in den südlich an die Landschaft Galatien Wohnenden? Ersteres ist die nordgalatische, letzteres die südgalatische Hypothese. Ich habe fünf Kommentare zum Galaterbrief und sechs Lehrbücher der Einleitung ins neue Testament befragt mit dem Ergebnis, daß sich zehn für die nordgalatische, einer hingegen für die südgalatische Hypothese entschieden haben. Die Absicht der letzteren ist klar: man möchte die Gemeinden südlich der Landschaft Galatien, die Paulus nur laut Apostelgeschichte bereist hat, die er selbst aber nie erwähnt, auf diese Weise bei Paulus unterbringen, zugleich aber der Aussage der Apostelgeschichte Rechnung tragen, die behauptet, Paulus habe zwar die Landschaft Galatien betreten, sei aber vom heiligen Geist am Predigen gehindert worden (Kap.16,6). Im übrigen sprechen alle historischen Argumente und sprachlichen wie inschriftlichen Zeugnisse für Nordgalatien, also das eigentliche Galatien, übrigens eine dörfliche, städtearme Gegend. So erklärt sich die Anrede „ an die Galater“ und nicht – wie sonst – an die (christlichen) Bewohner einer Stadt wie Korinth, Philippi usw..
In diesem Brief begründet er nicht nur seine Unabhängigkeit gegenüber den Aposteln in Jerusalem (Kap. 1,15-23), sondern entwickelt in scharf-polemischer Form die Rechtfertigung ohne des Gesetzes Werke als das eine und einzige Evangelium. Der Kreuzestod Jesu Christi hat allen Menschen aller Völker den Zugang zu Gottes Gnade bedingungslos erschlossen (Kap.2,15-21;3,10-14.23-29;4,1-7) ). Der Grundsatz ist: Judenchristen sollen weiterhin Juden bleiben, und deren Identität besteht im Halten des alttestamentlichen Gesetzes. Doch Heidenchristen sind frei davon. Sie sollen keine Juden werden. Zwischen beiden soll aber volle Gemeinschaft bestehen. Dieser Brief ist offensichtlich ein Rückzugsgefecht. Die Beschneidungsaktion war schon im vollen Gange, und ein Menschenalter später wußte man nach dem Zeugnis der Apostelgeschichte schon nicht mehr, daß Paulus dort Gemeinden gegründet hatte.
Die judenchristlichen Wortführer Petrus, Johannes und Jakobus waren also nicht zur „Kirchengemeinschaft“ mit den gesetzesfreien Heidenchristen bereit. Paulus war im Begriff, von Korinth nach Jerusalem zu reisen, um die Kollekte zu übergeben. Doch die würden ihm die Jerusalemer wahrscheinlich gar nicht abnehmen. Denn von einem Band der Gemeinsamkeit wollten sie – wie der galatische Konflikt zeigte – nichts wissen. Paulus mußte außerdem mit seiner Verhaftung durch die Römer als Störenfried rechnen. Seine Haft in Ephesus hatte ihn dies gelehrt. Er wollte aber auch noch nach Rom, wenn er Jerusalem als freier Mann verlassen hätte. Rom sollte für ihn die Operationsbasis einer Spanienmission werden, wie Ephesus die Operationsbasis für die Griechenlandmission gewesen war. Allerdings hatte er die römische Gemeinde weder gegründet noch kannte er sie überhaupt. Wäre sie von einem andern Apostel gegründet worden, dann hätte er sich gemäß seinen Grundsätzen nicht an sie wenden können. Daß er es doch tat, läßt den Schluß zu, daß sie auf andere Weise – wohl durch die allgemeine Bevölkerungsbewegung vom Osten in die Welthauptstadt – zustande gekommen ist.