Das Hohe Lied, eigentlich das Lied der Lieder ist eine Sammlung von Liebesliedern. Vielleicht sind die einzelnen Lieder angeregt durch die Liebesdichtungen griechischer Dichter wie Kallimachos, Apollonios von Rhodos und Theokrit in Alexandria. Doch auch das vorhellenistische Ägypten war reich an Liebesliedern, so daß auch von daher Anregungen gekommen sein können. Die Sprache verweist auf einen ziemlich späten Zeitpunkt. Die Zusammenstellung der einzelnen Lieder zu dem nun vorliegenden Sammelwerk ist zweifellos erst im hellenistischen Zeitalter erfolgt.
Liegt dieser Sammlung ein bestimmtes Ordnungsprinzip zugrunde. In dieser Richtung sind verschiedene Vorschläge gemacht worden. Jeder, der das Büchlein aufmerksam liest, wird eine Gliederung finden können. Der Redaktor, der die einzelnen Lieder zusammengestellt hat, wird sich dabei etwas gedacht haben. Er hat ja auch redaktionelle Verbindungen geschaffen, so daß sich ein gewisser Ablauf ergibt.
Doch die viel näher liegende Frage besteht darin, wie diese ganz profane Liebesdichtung in die heilige Schrift kommt. Jüdische und christliche Ausleger haben das Ganze allegorisch verstanden, nämlich das Verhältnis der Gemeinde zu Gott oder Christus. Auch auf das Thema Gott und die Seele des einzelnen Frommen hat man es allegorisch ausgelegt. Die jüngste und vermutlich letzte allegorische Deutung hat A.Robert 1963 vorgelegt. Er sah in der besungenen Beziehung zwischen Braut und Bräutigam Israels Geschichte mit seinem Gott. Der Sumer-Forscher Schmökel sieht in der Gesamtdichtung die Wiedergabe des Rituals der heiligen Hochzeit, die in der babylonischen Religion eine große Rolle gespielt hat und auf die Sumerer zurückgeht. So könnte die allegorische Deutung eine religionsgeschichtliche Begründung haben. Jedoch ist das eine Vermutung, auf die im Text selbst nichts hinweist. Es könnte ja sein, daß die allegorische Deutung dazu geführt hat, das Hohelied in den Kanon aufzunehmen, aber die meisten Forscher sehen den umgekehrten Weg als richtig an, nämlich: weil das Hohelied im Kanon steht, musste man ihm einen spirituellen Sinn abgewinnen, und das ging am einfachsten durch Allegorisierung. Wir wissen nicht, warum diese Aufnahme geschah.
In den letzten Jahrzehnten haben verschiedene Exegeten auf Bezüge des Hohenliedes zur Paradiesesgeschichte I.Mose 2-3 hingewiesen. In beiden spielt der Garten als Paradies eine Rolle. Die Liebe zwischen Mann und Frau, hier in durchaus erotischen Farben dargestellt, ist die Rückkehr ins Paradies. Dazu denke man an den redaktionellen Vers 8,6: „Lege mich wie ein Siegel auf dein Herz, wie ein Siegel auf deinen Arm. Denn Liebe ist stark wie der Tod und Leidenschaft unwiderstehlich wie das Totenreich. Ihre Glut ist feurig und eine Flamme Jahwes.“ Der Tod, der allgemein als stärkste und unwiderstehlichste Gewalt gilt, hat Konkurrenz, welche genauso stark ist: die Liebe, eben die erotische Liebe zwischen Mann und Frau. Hier dient sie nicht mehr nur – wie sonst im Tanak – der Kinderzeugung und damit der Erhaltung des Volkes, sondern hier gewinnt sie einen Eigenwert. Auch das ist also biblisch.