Die beiden Bücher der Chronik fassen wir zunächst ins Auge. Sie sind, wie die Samuelis- und die Königsbücher von Hause aus ein einziges Buch, das nur wegen seines Umfangs geteilt worden ist. Inhaltlich decken sie sich mit dem Enneateuch, den Büchern von I.Mose bis II.Könige. Die Verfasser des Grundbestandes der Chronik haben den Enneateuch als Vorlage benutzt. Sie wollten ihn nicht etwa ersetzen, sondern verstanden ihr Werk als Auslegung desselben. Freilich ist der Stoff von I.Mose 1 bis II.Sam 4 in I.Chr auf ganze zehn Kapitel komprimiert und enthält nur Abstammungslisten, sog. Genealogien. Wie wir am Buch Esra sehen werden, waren Genealogien nach dem babylonischen Exil wichtig als Nachweis der Zugehörigkeit zum Gottesvolk. Jedenfalls haben wir als Grundschrift der Chronikbücher ein Exzerpt aus dem Enneateuch. Soweit es sich um Auszüge aus den Königsbüchern handelt, haben sich die Verfasser nur für die Könige von Juda, also die Davidsnachkommen interessiert. Das Nordreich Israel wird nur dann erwähnt, wenn irgendwelche friedlichen oder feindlichen Berührungen desselben mit Juda zu berichten waren. Nicht einmal vom Untergang Israels und von der Deportation seiner Bewohner durch die Assyrer erfahren wir etwas.
Offensichtlich wichtig sind den Verfassern David und seine Dynastie, und dabei die kultischen Einrichtungen, die diese getroffen haben einschließlich des immer wieder hervorbrechenden Götzendienstes. Dabei wird das Schema von Lohn und Strafe je nach dem kultischen Verhalten der einzelnen Könige noch mehr hervorgehoben als in den Königsbüchern.
Eine sehr genaue Betrachtung der Chronikbücher zeigt übrigens, daß ihre Verfasser nicht den gleichen Text des Enneateuch vor sich gehabt haben wie wir, also nicht den sog. masoretischen Text des Tanak, sondern eine andere Fassung, welche den Bibeltexten von Qumran und der hebräischen Vorlage der LXX sehr nahe gestanden hat. Daß Qumran der Vorlage der LXX näher gestanden hat als dem masoretischen Text, ist schon längere Zeit bekannt.
In den Chronikbüchern wird oft auf Quellen oder auf eine Quelle verwiesen, auf „ das Buch der Könige von Israel und Juda“ und auf andere. Erstens handelt es sich trotz der unterschiedlichen Bezeichnungen immer um dasselbe Buch; zweitens haben die Chronisten dieses Buch nicht vor sich gehabt. Diese Hinweise stammen aus den Königsbüchern und sind einfach von dort übernommen, wie ein vergleichender Blick in die Königsbücher beweist. Das ursprüngliche Exzerpt oder die Grundschrift beginnt mit der Genealogie Judas (I.Chr.2,1), weil David diesem Stamm zugerechnet wird, und weil sich Die Chronikbücher speziell mit Juda befassen und die Nordstämme kaum beachten. Einige Stellen im II.Chr stammen nicht aus dem II.Kön, sondern von woandersher, sind also Sondergut, primäres Sondergut, das nicht erst später eingefügt worden ist. Georg Steins (in Zengers Einleitung) vermutet im Gegensatz zu Kratz, daß für II.Chr 3,1-7,11 außer I.Kön 6-8 noch eine andere Quelle benutzt worden ist, die der in Qumran gefundenen Tempelrolle nahe gestanden hat. Über das Sondergut gibt es also im Einzelnen unterschiedliche Meinungen. Kratz sieht in II.Chr 1-9 überhaupt kein Sondergut, sondern nur eine Exzerpt aus II.Kön. Diese Grundgestalt, die aus dem Exzerpt der Samuelis- und Königsbücher sowie dem primären Sondergut bestand, dürfte in der spätpersischen Zeit verfaßt worden sein, so um 350 v. Chr.
Auch hier kam es zu Fortschreibungen. Eine Fortschreibung ist I.Chr 1,1,-2,2, also die Genealogien von Adam bis zu den zwölf Ahnherren der zwölf Stämme. Auch die weiteren Genealogien bis zum 9. Kapitel sind solche Fortschreibungen. Auch Vieles von dem, was mit dem Kult zusammenhängt, stammt von späteren Händen. Hier sind die Untersuchungen ebenso wie beim primären Sondergut noch so sehr im Fluß, daß es wenig sinnvoll erscheint, eine Übersicht, wie sie Kratz , der die Sache am gründlichsten untersucht hat, vorlegt, wiederzugeben. Gerade der Kult ist in diesen Fortschreibungen wichtig, wobei die Leviten sich des besonderen Interesses erfreuen, so daß man annehmen kann, daß wenigstens einer der Bearbeiter Levit gewesen ist. Daß der Tempel und sein Kult eine solche Rolle spielen, hat lange Zeit zur Geringschätzung der Chronikbücher geführt. Das kann man heute nicht mehr so sehen. Denn die Identität des Judentums war nach dem Verlust staatlicher Souveränität zunehmend gefährdet und bedurfte zu seiner Bewahrung eines Mittelpunktes, und das konnte nur der Tempel sein, und zwar ein Tempel, der frei von aller Überfremdung ein Heiligtum des einen Gottes war, der sich gerade dieses Volk erwählt hatte. Die Fortschreibungen werden sich durch eine längere Zeit hingezogen haben bis in die Makkabäerzeit, also bis nahe an die Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr.
Neben den Tempelkult trat als einigendes Band die Sammlung heiliger Schriften, der Kanon. Wahrscheinlich waren die Chronikbücher der Anlaß dafür. Diejenigen, welche die Fortschreibungen in der Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr. abgeschlossen haben, wollten damit wahrscheinlich den Kanon abschließen, und haben damit überhaupt erst einen Begriff des Kanons begründet. Bis zu seiner endgültigen Festlegung sollten noch zweieinhalb Jahrhunderte vergehen. Es ist also kein Zufall, daß die beiden Chronikbücher bis heute am Ende des Tanak stehen.