Die deutschen Bibelübersetzungen, die wir heute benutzen, sind durchweg Übersetzungen aus dem Hebräischen, Aramäischen – was das Alte Testament betrifft – und aus dem Griechischen – was das Neue Testament betrifft. Bei manchen Ausgaben kann man sich freilich des Eindrucks nicht erwehren, daß sich die Herausgeber einfach an eine der deutschen Übersetzungen gehalten und sie umgeschrieben haben. Die erste Übersetzung des Neuen Testaments aus dem Griechischen ist diejenige Martin Luthers von 1522. Hier ist nicht auf die Geschichte der deutschen Bibelübersetzungen einzugehen; das wäre ein Thema für sich.

Martin Luther benutzte die erste gedruckte Ausgabe des griechischen Neuen Testaments, die der große Humanist Erasmus von Rotterdam 1516 bei Froben in Basel hatte drucken lassen. Dazu gehörten auch eine neue Übersetzung aus dem Griechischen ins Lateinische und sprachliche Anmerkungen. Das Ganze hieß „Novum Instrumentum“. Martin Luther hatte es sich sogleich besorgt. Denn in seiner Vorlesung über den Hebräerbrief von 1517 hat er vom Novum Instrumentum Gebrauch gemacht. Auf der Wartburg benutzte er die zweite Auflage von 1519.

Erasmus hat sich mit der Veröffentlichung sehr beeilt. Denn er wollte dem Kardinal Ximenez zuvorkommen, der in der Universität Alcalá oder Complutum eine Polyglotte, d.h. eine Ausgabe der Gesamtbibel in mehreren alten Sprachen, die Complutensische Polyglotte vorbereitet. Wegen der Eile benutzte Erasmus nur die paar wenigen und recht späten griechischen Handschriften, die damals im Druckort Basel greifbar waren. Überhaupt waren damals nur wenige griechische Handschriften des Neuen Testaments bekannt, darunter aber doch einige, die besser waren als diejenigen, die Erasmus benutzt hat. Der Schluß der Johannesoffenbarung fehlte in den von ihm benutzten Handschriften überhaupt, und deshalb hat er den Schluß kurzerhand aus dem Lateinischen in Griechische zurückübersetzt. Er hat später selbst gesagt, er habe das Novum Instrumentum mehr überstürzt als herausgegeben.

Inzwischen sind einige Tausend griechischer Handschriften des Neuen Testaments bekannt, von denen freilich nur wenige das ganze Neue Testament enthalten. Hinzu kommt noch eine große Menge von alten Übersetzungen ins Syrische, Koptische, Äthiopische, Gotische, Armenische, Georgische und Lateinische. Ferner gibt es die Lektionare, also Bücher, die nur diejenigen biblischen Abschnitt enthalten, die im Gottesdienst gelesen wurden, auch sie in verschiedenen Übersetzungen, sodann die vielen Zitate bei den Kirchenvätern. Von den anderen antiken Autoren liegt heute höchstens jeweils etwa ein Dutzend Handschriften vor, die auch viel weiter vom Autograph, d.h. der ursprünglichen Handschrift des Verfassers selbst, entfernt sind als die neutestamentlichen Handschriften. Es gibt übrigens aus dem ganzen Altertum kein einziges Autograph.

Die ältesten Handschriften der anderen antiken Verfasser stammen meist erst aus der Karolingerzeit. Platonhandschriften sind also beispielsweise 1200 Jahre jünger als das Autograph. Die ältesten Handschriften mit neutestamentlichen Texten wurden im 2. Jahrhundert n. Chr. geschrieben, also rund 100 Jahre nach dem Autograph. Als älteste neutestamentliche Handschrift gilt der Papyrus 52, der ein Stück der Passionsgeschichte des vierten Evangeliums enthält. Er soll um 120 n. Chr. geschrieben worden sein. Ich will nicht verhehlen, das der frühere Berliner Neutestamentler Walter Schmithals diese Datierung bestreitet. Er setzt das Stück einige Jahrzehnte später an, hat aber keinen Beifall gefunden.

Beim Schreibmaterial unterscheidet man Papyrus und Pergament. Die ältesten Handschriften sind auf Papyrus geschrieben, das übrigens stabiler ist als man zunächst annimmt. Sie stammen durchweg aus Ägypten, obwohl auch woanders auf Papyrus geschrieben worden ist. Doch nur in dem trockenen Klima in Ägypten konnten sie sich erhalten. Die jüngste Papyrushandschrift des Neuen Testaments stammt aus dem 8. Jahrhundert. Die älteste Pergamenthandschrift stammt aus dem frühen 3. Jahrhundert. Die griechische Schrift – nicht nur beim Neuen Testament – kannte im Altertum nur Großbuchstaben und keine Wortabstände, Satzzeichen und Akzente. Diese Handschriften in Großbuchstaben nennt man Majuskeln. Die jüngste neutestamentliche Majuskel ist um das Jahr 1000 geschrieben worden, obwohl es damals schon Kleinbuchstaben, Satzzeichen und Akzente gab und man auch die Wortabstände einhielt. Handschriften, in denen man dieses findet, heißen Minuskeln. Die älteste uns bekannte neutestamentliche Minuskel ist im 8. Jahrhundert geschrieben worden.

Die Schreiber des Neuen Testaments haben dabei eine Erfindung gemacht, die bis heute angewandt wird. Im Altertum war die Buchrolle üblich, lateinisch „liber“. Schon bei den ältesten Papyri des Neuen Testaments hat man aber festgestellt, daß sie nicht zu einer Rolle gehörten, sondern zu einem gebundenen Buch, lateinisch „codex“. Das gebundene Buch ist also eine christliche Erfindung. Den Grund für diese Neuerung kennen wir allerdings nicht.

Je mehr Handschriften es gibt, umso mehr Abweichungen gibt es natürlich auch zwischen den Handschriften. Man nennt sie Varianten. Darüber sind von Leuten ohne Sachkenntnis viele sensationelle Behauptungen aufgestellt worden, aber so wild ist die Angelegenheit gar nicht. Ein sehr großer Teil wirkt sich in der Übersetzung überhaupt nicht aus. Andere Varianten sind zwar in der Übersetzung erkennbar, ändern aber am Inhalt nichts. Eine dritte Gruppe, die kleinste, ist exegetisch interessant. Das berühmteste Beispiel ist Luk 2,14. Da singen die Engel in den besseren, älteren Handschriften:
„Ehre sei Gott in der Höhe
und Friede auf Erden den Menschen des Wohlgefallens“,
nämlich des Wohlgefallens Gottes. Im Unterschied zu den Engeln damals singen wir heute in der Liturgie die schlechtere Lesart späterer Handschriften:
„Ehre sei Gott in der Höhe
und Friede auf Erden
und den Menschen ein Wohlgefallen.“
Ein weiteres Beispiel ist der Schluß des Vaterunsers „Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.“ Dieser Schluß fehlt in wichtigen und alten Handschriften und wird heute von allen Fachleuten als nicht ursprünglich angesehen. Wahrscheinlich hat ein Abschreiber diesen Schluß aus dem liturgischen Gebrauch seiner Gemeinde hinzugesetzt.

Schon im Altertum haben die Kirchenväter und –Lehrer Textkritik getrieben, d.h. sie haben sich bemüht, die einzelnen Lesarten in den ihnen vorliegenden Texten zu unterscheiden. Kritik kommt von dem griechischen Wort spr.: krínein), und das heißt „unterscheiden“. Sie haben sich um die nach ihrer Meinung besten Lesarten bemüht, und danach wurden dann Abschriften angefertigt, so daß unterschiedliche Textfamilien entstanden. Es gibt eine Textfamilie, die auf eine Rezension zurückgeht, die in Alexandria vorgenommen wurde, wahrscheinlich durch Hesych. Der Ort einer anderen Rezension war Antiochia. Dort entstand der sog. Lukian-Text. Außerdem scheint es noch eine dritte, kleine Textfamilie gegeben zu haben, die man früher als „westlich“ bezeichnete. Seit wir aber wissen, daß auch sie dem Orient entstammt, nennt man sie besser nach ihrer bedeutendsten Majuskel „D-Text“. Weitere Textfamilien, die man früher annahm, sind sehr fraglich.
Diese Rezensionen sind aber der vorläufige Endpunkt einer längeren Entwicklung. Das älteste waren natürlich die schon erwähnten Autographen, beispielsweise die an einzelne Gemeinden gerichteten Briefe. Abschriften davon gingen an andere Gemeinden. So steht es ausdrücklich Kol 4,16. Dieses Verfahren wurde durch viele Generationen fortgesetzt. Natürlich traten dabei irrtümliche Schreibfehler auf, aber auch bewußte Änderungen. Bei diesen Änderungen handelt es sich fast durchgehend um Erweiterungen gegenüber der Vorlage, kaum je um Auslassungen. Dazu hatten die Schreiber zu viel Respekt vor dem heiligen Text. In der besonders schweren Christenverfolgung unter Kaiser Decius 250 und der unter Valerian 260 sind unzählige Handschriften des Neuen Testaments verbrannt worden. In der folgenden zunächst ruhigen Zeit wurden neue Handschriften angefertigt. Sie wurden sprachlich geglättet, Zusätze wurden angefügt, die verschiedenen Fassungen der drei ersten Evangelien wurden in mancherlei Einzelheiten einander angeglichen. Das kann man durch Vergleich mit den erhaltenen älteren Manuskripten feststellen. In diese Zeit dürften die erwähnten Rezensionen fallen. Die relativ ruhige Zeit fand im Jahre 303 ein jähes Ende, als Kaiser Diokletian zu einer neuen Verfolgung ausholte, die zehn Jahre dauerte.

Wieder wurden viele Handschriften vernichtet. Doch als 313 unter Constantin die Verfolgungszeit endete, wurde der Bedarf an Bibelhandschriften auf einmal sehr groß. Er konnte nur befriedigt werden durch besondere Scriptorien, Schreibwerkstätten, welche die Bischöfe einrichteten. Die Rezensionsarbeit ging dabei wohl weiter. Nun aber entstanden auch die großen Pergamenthandschriften der gesamten griechischen Bibel: der Codex Sinaiticus, der Codex Vaticanus usw..

Führend auf dem Gebiet der Textkritik ist heute das Institut für neutestamentliche Textkritik, das zur evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Münster gehört. Hier sind die meisten antiken Handschriften des Neuen Testaments in Mikrofilmen vorhanden. Der Begründer des Instituts, Kurt Aland, war auch der Herausgeber der jetzt gebräuchlichen Ausgabe des griechischen Neuen Testaments. Es ist eine kritische Ausgabe; sie enthält alle Varianten, die auch nur entfernt einmal wichtig sein könnten. Die frühere, auch heute noch von manchen benutzte Ausgabe stammt von Eberhard und Erwin Nestle, Vater und Sohn. Deren erste Auflage ist 1898 erschienen. Die 26. Auflage hat 1976 Kurt Aland nach neuen Grundsätzen herausgebracht. Sie läuft nun unter dem Namen „Nestle-Aland“. Inzwischen gibt es eine 27. Auflage, die aber nur ein unveränderter Nachdruck der 26. Ist.