Esra-Nehemia stellen in unseren Bibeln zwei Bücher dar. Im Tanak bilden sie ein Buch. Das waren sie in den LXX ursprünglich auch. Erst der große Kirchenlehrer Origenes hat im 3. Jahrhundert das Buch geteilt, und diese Zweiteilung hat Hieronymus um 400 in seine lateinische Übersetzung, die Vulgata übernommen. Bei allen Übersetzungen, auch bei denen aus dem Hebräischen und Aramäischen ist es dabei geblieben.

Das allmähliche Werden des Esra-Nehemia-Buches ist äußerst verwickelt. Schon eine aufmerksame Lektüre läßt Widersprüche, Überschneidungen und Wiederholungen erkennen. Hinzu kommt, daß das Werk im Esra-Teil zweisprachig ist, nämlich aus hebräischen und aramäischen Abschnitten besteht, wobei die ersteren überwiegen, während Esr 4,6-6,18 aramäisch ist. Hinzu kommen inhaltliche Bezüge zu den Propheten Haggai, Sach 1-8 und einigen Stellen aus Deuterojesaja. Wir haben es ja im Esra-Nehemia-Buch mit einer Darstellung der Neukonstituierung Israels nach dem Exil zu tun. Dabei kommen verschiedene Dinge zur Sprache: der Bau der Stadtmauer, der Wiederaufbau des Tempels, die Bekanntgabe des Gesetzes und die Frage der Mischehen zwischen den im Lande gebliebenen Juden mit nichtjüdischen Partnern. Dazwischen stehen mehrere amtliche Schriftstücke, deren Echtheit ebenso fraglich ist wie die Historizität der Person Esras. Die bisher gründlichste Untersuchung der Entstehungsverhältnisse ist die von Reinhard G. Kratz, deren Grundzüge jetzt wiedergegeben werden sollen.

Er geht von zwei Quellenstücken aus, die von Hause aus nichts miteinander zu tun haben, nämlich der aramäischen Chronik vom Wiederaufbau des Tempels Esr 4,24-6,15 und der hebräischen Denkschrift Nehemias, bei der es um den Wiederaufbau der Stadtmauer geht: Neh 1,1a; Kap.2-6 und 12. Die Denkschrift ist im Ich-Stil verfaßt, also als Nehemias eigener Bericht. Anders verhält es sich mit der Esraerzählung Esr 7 – 10. Die hat nie für sich existiert, sondern setzt die Chronik vom Tempelbau voraus, welche sie fortsetzen will. Erst in Esr 7,1 erscheint der Name Esra, und er wird als Schriftgelehrter, beschlagen im Gesetz des Mose, das Jahwe gegeben hatte. Der Chronik vom Tempelbau in Esr 4,24 – 6,15 ist dann der Abschnitt Esr 1,1 – 4,23 vorangestellt worden. In diesen vier Kapiteln wird erzählt, daß der Perserkönig Kyros den Exulanten die Rückkehr in die Heimat erlaubt und ihnen die von den Babyloniern geraubten Tempelgeräte mitgibt (Kap.1), worauf in Kap. 2 eine Liste der Heimkehrer folgt. Als ihre Führer werden 2,2 Serubbabel und Jeschua genannt. Diese Leute errichten den Brandopferaltar auf dem Tempelplatz und opfern; dann beginnen sie, den Tempel wieder zu bauen (Kap.3). Es gibt aber Widerstände bei den Nichtjuden im Lande, auf deren Bitte hin der König Artaxerxes den Weiterbau verbietet (Kap.4). Nach dem Wortlaut des Schriftverkehrs verbietet er den Weiterbau der Stadtmauer, woraufhin die Juden den Weiterbau des Tempels einstellen, was gar nicht ausdrücklich verlangt worden war. Dieses Ganze ist sekundär gegenüber der Tempelbauchronik, die entweder mit dem letzten, dem 24. Vers des vierten oder mit dem ersten Vers des fünften Kapitels beginnt. Hier fängt der Tempelbau an, aber hier tun das nicht die heimgekehrten Exulanten, sondern die im Lande gebliebenen Juden auf Betreiben der Propheten Haggai und Sacharja. Die Leitung des Unternehmens liegt aber in den Händen von Serubbabel und Jeschua. Das überrascht, und daß weder die beiden Propheten noch die beiden Anführer der Exulanten im weiteren Verlauf vorkommen, liegt die Annahme nahe, daß sie interpoliert worden sind, nachdem Kap.1-4 vorangestellt wurden, so daß die ersten vier Kapitel mit der älteren Tempelbauchronik , die nun als Chronik der Wiederaufnahme des unterbrochenen Tempelbaus erscheint. Auch hier gibt es Schwierigkeiten unter dem König Dareios, die aber behoben werden durch die Auffindung des Kyrosediktes im Reichsarchiv.

Erst Kapitel 7 erscheint, wie gesagt Esra. Mit ihm kommen weitere Heimkehrer aus Babylon nach Jerusalem (Kap. 8)Als sein Werk erscheint hier ausdrücklich die Auflösung der jüdisch-nichtjüdischen Mischehen (Kap. 10). Dieser Aktion geht ein Bußgebet Esras wegen der Mischehen voraus. Diese ganze Geschichte Kap.7-10 muß als legendär angesehen werden. Damit ist freilich auch die Frage nach der Geschichtlichkeit der Person Esras gestellt, der in der ganzen folgenden Zeit im Judentum als das Urbild des Schriftgelehrten schlechthin galt und gilt.

Er kommt aber auch im Nehemia-Buch vor. Es wurde schon darauf hingewiesen, daß die sog. Denkschrift Nehemias in Neh 1,1a; 2-6; 12 zu finden ist. Da wird vom Bau der Stadtmauer erzählt samt den Schwierigkeiten, die es dabei wie beim Tempelbau gab. Von der Behinderung des Mauerbaues ist auch Esra 4 die Rede. Obwohl es dort im Zusammenhang um den Tempelbau geht, ist in dem Schriftverkehr Esr 4,12- 25 nur vom Mauerbau und allgemein vom Aufbau der Stadt Jerusalem die Rede Wie der Tempelbauchronik Esr 4,24-6,15 die vier ersten Kapitel des Esrabuches vorangestellt worden sind, so der Nehemia-Denkschrift das erste Kapitel des Nehemiabuches. Dies Kapitel ist also sekundär gegenüber der Denkschrift. Eingeschoben in diese Denkschrift zwischen Neh 6 und Neh 12 sind die Kapitel 7 bis 11. Da wird in 7,4 – 68 die Heimkehrerliste aus Esr 2,1-67 wiederholt. Wichtig ist aber, daß Esra in Neh 8 das Gesetz verkündet. Damit ist der Pentateuch gemeint. Das Volk verpflichtet sich auf das Gesetz, und der Einschub wird durch eine Liste der Einwohner Jerusalems abgeschlossen, um in Kapitel 13 wieder aufgenommen zu werden. Der Mauerbau wird nach der Liste der Priester und Leviten (Neh 12,1-26) i‚‚‚n Neh 12,27 wieder aufgenommen, d.h. die Nehemiadenkschrift endet mit der Einweihung der Stadtmauer und einigen daran angeschlossenen organisatorischen Regelungen. Diese letzteren (Neh 12,44-47 ) sind ebenso wie das 13. Kapitel ein späterer Nachtrag, besser es sind spätere Nachträge zur Denkschrift.

Ich habe mich auf die Darstellung der großen Blöcke der Quellen und ihrer sekundären Rahmung beschränkt. Die vielfachen Erweiterungen , die im Einzelnen innerhalb dieser Blöcke vorgenommen sind, blieben unberücksichtigt. Mit ihnen, die mancherlei Interessantes bieten, kann man sich nur in einer speziellen Bibelarbeit beschäftigen.

Nur eine Einzelheit ist noch von Belang. Denn sie betrifft das Verhältnis von Esra-Nehemia zur Chronik. Diese endet in II.Chr 36,22f. mit dem Ende des Exils. Diese beiden Verse sind ein Nachtrag, eine Übernahme von Esr 1,1-3a. Diese Übernahme dürfte nach dem Abschluss von Esra-Nehemia erfolgt sein. Infolge dieser Verbindung, welche die Endredaktion des Esra-Nehemia-Buches wie der Chronik-Bücher kann man von einem chronistischen Geschichtswerk sprechen.

So kompliziert der Werdegang des Esra-Nehemia-Buches ist, es geht darin um etwas ganz Elementares: die Neukonstituierung des Judentums nach dem Exil als Gottesvolk, nämlich durch Reinheit der Abstammung, den Tempel samt der Sicherung der heiligen Stadt und das Gesetz. Gerade bei dem Letzteren ist auf die Bearbeitung und Zusammenstellung des Gesetzes bis zur Endredaktion des Pentateuch zu achten, die gleichzeitig mit dem Werden sowohl der Chronik wie des Esra-Nehemia-Buches vollzogen wurden.