Das Buch Esther hat es schwer gehabt in den hebräischen Kanon zu gelangen. Es ist das einzige biblische Buch, von dem in den Höhlen von Qumran nichts gefunden worden ist. Entweder haben es die Qumran-Leute abgelehnt oder – was wahrscheinlicher ist – es hatte bis in die Mitte des ersten Jahrhunderts n.Chr. noch keine kanonische Anerkennung erlangt. In der Synagoge wird es zum Purimfest gelesen, das in unsere Fastenzeit fällt. Es ist ein Fest mit viel Mummenschanz, in dem der Triumph der Juden über ihre Bedränger gefeiert wird.

Die Handlung ist frei erfunden. Haman, der Wesir des Perserkönigs Ahasverosch, das ist Xerxes, plant die Vernichtung aller Juden des Reiches. Das weiß Esther, die jüdische Gemahlin des Königs, mit Hilfe von Mordechai zu verhindern. Haman wird hingerichtet, und die Juden fallen mit Mord und Raub über die Perser her. Es ist begreiflich, daß Martin Luther dieses Buch garnicht mochte. Da es aber nun einmal im hebräischen Kanon stand, den die Reformatoren als das Alte Testament anerkannten, blieb es im christlichen Kanon. Daß das Esterbuch andererseits bei den dauernd von Verachtung und Pogromen bedrohten Judenschaft sehr beliebt war und wohl noch ist, ist ebenso begreiflich.

Es ist viel darüber nachgedacht worden, ob der Stoff auf eine altorientalische Erzählung zurückgeht, aber diese Frage ist offen geblieben. Die Berührungen sind doch nur punktuell, so daß man dieser Möglichkeit gegenwärtig keine besondere Beachtung schenkt. Das Buch ist übrigens in den LXX und in einer anderen griechischen Übersetzung des Tanak umfangreicher als in der hebräischen Bibel. Die Teile des Buches, die nur griechisch vorhanden sind, stehen in den evangelischen Bibelausgaben bei den Apokryphen als „Stücke zu Esther“. Darüber, wie diese unterschiedlichen Fassungen miteinander zusammenhängen, gibt es noch keine allgemein angenommene Erklärung. In der hebräischen Fassung ist von Gott so gut wie nicht die Rede. Diejenigen Teile, die nur griechisch vorhanden sind, sind hingegen „theologisch“. Hier wird an die Rettung Israels aus Ägypten erinnert, und bei Mordechai kann man mit guten Gründen an Josef denken.

Literaturgeschichtlich gehört das Buch in die Frühgeschichte des Romans mit allen Kennzeichen, welche die Romane der hellenistischen Zeit aufweisen. Das Verhältnis des Hofes zum Judentum passt nicht in das religiös tolerante persische Königtum, wohl aber in die Zeit, in der die seleukidisch – syrischen Könige in Palästina herrschten. Das könnte, muß aber nicht in die Zeit der Makkabäer fallen. Immerhin liegt es nahe, die Abfassung im 2. Jahrhundert v. Chr. anzunehmen. Nach dem Milieu, in dem der Roman spielt, kann man an seine Entstehung in der östlichen Diaspora, also im babylonischen Judentum denken. Die Bezugnahme auf das Purimfest in3,7; 9,20-32 gilt als sekundär. Demnach ist das Buch nicht von vornherein als Festlegende des Purimfestes geschrieben worden.

Zu beachten ist bei der Lektüre des Buches der Parallelismus von 3,1 bis 7,10 zu 8,1 bis 9,19 . Auffallend sind die vielen Festgelage, die immer paarweise erscheinen: 1,3 und 1,5; 1,9 und 2,18; 5,4-8 und 6,14- 7,8; 9,18 und 9,19.
Das sog. Gottesschweigen in dem Roman darf nicht über seine theologische Aussage hinwegtäuschen. Denn die ist gewollt. Zwischen Israel und denjenigen anderen Völkern, die Israel vernichten wollen, besteht ewige Feindschaft (II.Mose 17,8-16 V.Mose 25,17-19). Für diese anderen Völker steht stellvertretend „Amalek“. Die Amalekiter wollten Israel beim Zug durch die Wüste am Einzug in das gelobte Land hindern. „Amalek“ ist das Code-Wort für alle anderen Völker, die Israel Böses antun wollen. Der Konflikt mit „Amalek“ ist die Voraussetzung dieses Romans, also ein Beispiel für eine allgemeine , immer wiederkehrende Erscheinung. Auf das künftige Reich als Gegenbild der Bedrängnis Israels in dieser Zeit steht das Königtum Esther.

Da man bei der Geschichte von den Juden im persischen Reich und bei Mordechai an Josef zu denken hat, geraten Roman und Purimfest sachlich in die Nähe von Pesach. Das Pesachmahl erinnert an die Flucht aus der Drangsal. Purim feiert mit der Esthergeschichte die endgültige Rettung in einer feindlichen Umwelt. Das passt auch gut zu dem vermuteten Ort der Abfassung, nämlich die Diaspora. Zenger bringt das auf die Formel: „Für die Juden in der Diaspora geht es nicht um Rettung aus der Fremde, sondern um Rettung in der Fremde.“ Das ist also die im Judentum durchaus nicht selbstverständliche Bejahung der Diasporasituation als die Lebensform des Judentums überhaupt im Gegensatz zum Streben nach dem eigenen, dem gelobten Lande, modern: dem Zionismus. Beide Tendenzen gibt es im Judentum auch heute.

Ebenso aktuell ist das Gottesschweigen in dem Roman. V.Mose 32 steht: „ Und Gott sprach: ich will mein Angesicht verbergen.“ Von Gott zu reden, ohne ihn zu erwähnen, ist ja immer noch ein theologisches Desiderat Dietrich Bonhoeffers. Er forderte, daß in der heutigen säkularisierten Welt das Evangelium, die Botschaft Gottes, unreligiös ausgesagt werden müsse. Damit hat man sich vor über vierzig Jahren zu beschäftigen angefangen. In den letzten 25 Jahren ist es damit immer stiller geworden.