Das Buch Daniel finden wir in unseren Bibeln unter den großen Propheten. Im Tanak steht es unter den Schriften. Es gehört zu einer besonderen literarischen Gattung, die uns schon in Jes 24-27 begegnet ist: der Apokalyptik. Man kann die Apokalyptik als Weiterbildung der Prophetie ansehen, was übrigens von manchen Kennern bestritten wird.

Die Apokalyptik beschäftigt sich mit der Zukunft der Welt, nicht nur mit derjenigen Israels. Sie rechnet schließlich mit zwei Welten, der bestehenden und der kommenden. Zunächst entwirft die Apokalyptik meistens einen ausführlichen Rückblick auf die bestehende Welt an Hand der Geschichte, die sie aus den Geschichtsbüchern des Tanak, also dem Enneateuch von I.Mose 1 bis II.Kön 25 entnimmt. Sie wird aber in Bildern dargestellt, die entschlüsselt werden müssen, was nicht immer leicht ist. Die Geschichte der bestehenden Welt ist eine Geschichte des Verfalls, vor allem in sittlich moralischer Hinsicht. Hier tritt eine Scheidung in zwei Menschengruppen ein, in die der Gerechten und der Sünder. Die ersteren sind nicht deckungsgleich mit Israel oder den Juden, sondern die Scheidung geht mitten durch das auserwählte Volk. Zu den Gerechten gehören allerdings nur Juden. Ob ganz am Rande auch einmal dieser oder jener Nichtjude ein Gerechter sein kann, ist angesichts der apokalyptischen Texte fraglich. Die Gerechten erleiden Unterdrückung und Verfolgung von den Sündern. Dieser gesamte Rückblick auf die bestehende Welt wird an Hand dessen, was im Enneateuch steht in Epochen eingeteilt. Die Apokalyptiker sind überzeugt, in der letzten Epoche der Weltgeschichte zu leben. Das Ende dieser Welt ist nahe.

Ohne menschliches Zutun wird diese Welt von der neuen Welt, die unmittelbar von Gott kommt, abgelöst. Das ist der kommende Äon oder das Reich Gottes, bei Daniel „Reich des Menschensohnes“. Nur die Gerechten werden darin eingehen und in Freuden leben, während die Sünder dem Gericht Gottes verfallen, durch das sie in die ewige Verdammnis geschickt werden. Zu den apokalyptischen Vorstellungen gehört auch die leibliche Auferstehung der Toten, so daß auch die verstorbenen Gerechten in das Gottesreich eingehen werden, während die verstorbenen Gerechten zu ihrer Verdammnis auferstehen werden. Diese Vorstellung hat sich allerdings in mehreren Stufen entwickelt. Ursprünglich war die Auferstehung nur dem Märtyrern vorbehalten, dann allen Gerechten, während die Sünder einfach in ihren Gräbern blieben. Dann kam es auch zur Erwartung der Auferstehung der Sünder, die allerdings nur auferstehen, um in die Verdammnis einzugehen.

Die apokalyptische Literatur steht durchweg unter dem Eindruck, daß das Kommen der Gottesherrschaft unmittelbar bevorsteht. Sie will ja die Gerechten ermutigen, diese kurze Zeitspanne noch durchzuhalten. Um die Nähe des Endes festzustellen, werden Berechnungen angestellt, denen Zahlenspekulationen zugrunde liegen. Da diese Voraussagen nicht eingetroffen sind, wurden die Apokalypsen überarbeitet, die Zahlenspekulationen umgedeutet. Deshalb haben wir in vielen Apokalypsen Sammelwerke vor uns, also auch Fortschreibungen, deren einzelne Schichten voneinander abzuheben sehr schwierig ist.

Wir können keinen einzigen Verfasser einer jüdischen Apokalypse benennen. Sie sind alle pseudonym oder Pseudepigraphen, d.h. sie laufen unter Namen, welche nicht die Namen der wirklichen Verfasser sind. Es sind vielmehr die Namen großer Gottesmänner der Vorzeit: Henoch, Mose, Elia usw., aber auch solche, deren Wirksamkeit erst einige Jahrhunderte zurückliegt wie Esra und Baruch. Der Apokalyptiker läßt diese Männer das prophezeien, was nach ihm geschehen wird, was jedoch für den Apokalyptiker Vergangenheit ist, die er aus der Bibel entnommen hat. Eine solche Voraussage, die nur scheinbar eine solche ist, tatsächlich aber auf Grund bereits geschehener Ereignisse gemacht wird, nennt man ein „vaticinium ex eventu“, d.h.: Weissagung aus dem Ereignis. Wenn man diese scheinbaren Weissagungen entschlüsselt, also mit dem, was tatsächlich schon geschehen ist, identifizieren kann, dann kommt man an eine Stelle, von der ab nichts mehr identifiziert werden kann. Das ist dann die Zeit, in welcher der wirkliche Verfasser geschrieben hat.

Manche Apokalypsen verbinden ihr Geschichtsbild mit einem älteren, das sich auf die Prophetie zurückführen läßt. Dieses ältere Bild rechnet nicht mit einer ganz neuen Welt, die aus der Transzendenz kommt, also nicht mit einer transzendenten Zukunftserwartung, wie sie der Apokalyptik eigen ist, sondern mit einer zwar herrlichen, aber noch durchaus irdischen Zukunft, also einem freien und mächtigen Israel, in dem Gerechtigkeit und Wohlstand herrschen. Hier hat die Gestalt des Messias, des von Gott gesalbten Königs ihren Platz. Er wird mit Gottes Hilfe die Feinde, die Unterdrücker vertreiben, Israel zu einem mächtigen Reich machen und gerecht, also nach Gottes Gesetz regieren. Wir müssen also unterscheiden zwischen der Vorstellung vom Gottesreich und dem Messiasreich. Beide gehören ganz unterschiedlichen Vorstellungskreisen an.

Manche Apokalyptiker haben beide Vorstellungen miteinander verbunden, aber dabei den Unterschied gewahrt. Das sieht dann so aus, daß der Messias die unterdrückten Gerechten befreit, über sie als gerechter König herrscht, und zwar über eine Reihe von Generationen. Die Feinde sind machtlos, raffen sich dann aber zu einem letzten Angriff auf das Volk Gottes auf. Erst im Moment höchster Not greift Gott ein, vernichtet die Feinde, die Toten stehen auf, das Gericht wird gehalten, die einen werden verdammt, die anderen gehen in das Reich Gottes ein. In der neutestamentlichen Johannesoffenbarung finden sie dies aufgegriffen in den letzten drei Kapiteln. Im übrigen operiert die Apokalyptik mit Engeln. Dämonen, dem Teufel und der Hölle, mit Visionen und Träumen. So obskur uns Heutigen vieles in der Apokalyptik erscheint, ist dies doch der Ursprung der Geschichtsphilosophie.

Auch das Danielbuch gehört zu den Pseudepigraphen. Es gibt sich als eine Schrift des bei Hes 14,14.20; 28,3 erwähnten Daniel eines gerechten und weisen Mannes , von dem wir sonst nichts weiter wissen, als daß er schon für den Exilspropheten Hesekiel eine Gestalt der Vorzeit gewesen ist. In dem Danielbuch gehört er zu denen, die 587 v. Chr. ins babylonische Exil verschleppt worden waren. Er hat es mit dem König Nebukadnezar zu tun und mit seinem vermeintlichen Nachfolger Belsazar. Der wirkliche Verfasser muß erheblich später als das Exil geschrieben haben. Denn der Belsazar, der in Kap. 7 als König nach Nebukadnezar eingeführt wird, ist nie König gewesen, höchstens als eine Art Statthalter unter dem letzten babylonischen König Nabonid.

Daniel ist der weiseste Mann, dessen Weisheit diejenige der babylonischen Weisen übertrifft, weil er von Gott seine Einsichten erhält. Er wird vom König als Traumdeuter herangezogen, aber er und seine Genossen müssen wegen ihres Bekenntnisses zum wahren Gott und der Ablehnung des heidnischen Götzendienstes, vor allem des Herrscherkultes viel erleiden. Dabei wird zwischen Nebukadnezars und Belsazars Verhalten deutlich unterschieden. Nebukadnezar bekehrt sich, während Belsazar uneinsichtig und unbekehrt bleibt. Seine größte Untat und sein Ende wird in Kapitel 5 erzählt, aus dem dann Heines berühmtes Gedicht hervorgegangen ist.

Das Buch ist in verschiedener Hinsicht uneinheitlich. Es besteht deutlich aus zwei Teilen: Kapitel 1-6 und Kapitel 7-12. Gegen die Einheitlichkeit spricht auch neben manchen anderen Brüchen der Namenswechsel von Daniel und seinen Freunden. Eine ziemlich rätselhafte Erscheinung ist auch die sprachliche Gestalt des Buches: Kap.1,1 bis 2,4a sind hebräisch, 2,4b bis 7,28 sind aramäisch, 8,1bis 12,13 wieder hebräisch. Manches ist darüberhinaus nur griechisch überliefert, steht also in den evangelischen Bibelausgaben bei den Apokryphen. Der gesamte griechische Text ist nicht nur in den LXX enthalten, sondern auch noch in einer anderen griechischen Version erhalten. Daß das Buch Daniel allmählich gewachsen ist, ist unübersehbar. Herbert Niehr (in Zengers Einleitung) spricht von einer Aufstockung, d.h. also auch von einer Fortschreibung. Das muß aber ein komplizierter Prozeß gewesen sein. Niehr führt eine Aufstockungshypothese vor, bemerkt aber auch, daß die Forschung gerade an diesem Buch noch im Fluß ist.

Grundlegend für die Interpretation ist die Einsicht, daß das 7. Kapitel der Höhepunkt des Werkes ist. Da kommen vier Tiere aus dem Abgrund, welche die Weltreiche darstellen. Von oben aber kommt einer, der aussieht wie der Sohn eines Menschen. Dann werden die Bücher aufgetan und der „Alte der Tage“, also der an Tagen Alte, der älteste überhaupt, nämlich Gott hält Gericht über die Weltreiche, und der Menschensohn herrscht über die „Heiligen des Höchsten“, womit ursprünglich wohl die Engel gemeint sind, im jetzigen Zusammenhang aber die Gerechten aus Israel. Bemerkenswert ist darüberhinaus, daß im Danielbuch (12,1-4.13) die Auferstehung der Toten vorkommt, die sonst im Tanak fehlt.

Daniel prophezeit den Untergang des babylonischen Reiches und seine Ablösung durch die Perser. Das ist aber eine historische Fiktion. Denn entstanden ist das Buch nach und nach im 2. Jahrhundert v. Chr., also in der hellenistischen Zeit während der Seleukidenherrschaft, als die Gefahr der Hellenisierung des Judentums akut wurde. Das war nämlich die Unterminierung der Gottesverehrung Israels, und dagegen wendet sich das Buch. Kapitel 11,36-37 setzen die Schändung des Tempels und das Verbot der jüdischen Religion durch Antiochos IV. im Jahre 167 voraus, Vers 34 vielleicht auch schon den Beginn des makkabäischen Aufstandes. Das Buch will die Gerechten, die im höchsten Maße bedrängt werden, durch den Ausblick auf die nahe bevorstehende Rettung durch Gottes Eingreifen stärken. Es ist also ein Trostbuch für die unterdrückte und verfolgte Gemeinde Gottes.